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25.10.2001
 
Wie Anthrax das imaginäre kontaminiert
Umzingelt von unsichtbaren Feinden
 

Philipp Sarasin *

erschienen
Mai 04:
>>Anthrax<<
Bioterror als Phantasma

Philipp Sarasin
edition suhrkamp
2368
Taschenbuch 195 Seiten

Was passiert, wenn wir etwas "Neues" sehen? Wovor fürchten wir uns, wenn wir uns vor Anthrax fürchten? Seit der Antike machen Vergiftungsängste das Fremde zum Feind.

Flugzeuge, die in Hochhäuser gesteuert werden. Bakterien in Briefumschlägen. Wenn die grundlegenden Regeln verletzt werden, die unsere Welt organisieren, beginnen wir die Dinge neu zu sehen. Eine dieser Regeln lautet: Die Krankheit Anthrax, die vom Bacillus anthracis verursacht wird, kommt in industrialisierten Ländern selten vor. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Aus der Türkei wurde im Juni dieses Jahres über einige Fälle von Hautmilzbrand berichtet, der in diesem Land endemisch ist. Aber nicht nur in der Türkei: In Texas etwa tritt Anthrax primär als Viehseuche regelmässig auf, und es kommt dort auch immer wieder zu Ansteckungen von Menschen, zum letzten Mal im Juli dieses Jahres.
Natürlich: Wir haben das nicht gewusst und es auch nicht wissen müssen. Anthrax ist erst jetzt eine "Realität". Doch die Wirklichkeit, die Welt, die wir wahrnehmen und in der wir leben, steckt voller Paradoxe: Wohl sind die Sporen auf dem Capitol Hill real und können Menschen krank machen oder töten - doch wie "real" genau? Die Wirklichkeit ist das, was wir wahrnehmen, und unser Wahrnehmungsapparat - ein Verbund von Neuronen, Augen, Ohren, Symbolsystemen, elektronischen Medien, Papier und Buchstaben - ist erst jetzt, unter ganz spezifischen Umständen, darauf eingestellt worden, Anthrax zu "sehen".
Und was sehen wir? Das wird vielleicht deutlicher, wenn man die Geschichte der Vergiftungsängste untersucht. Die jüngsten Ereignisse erhalten dann plötzlich eine lange Vorgeschichte, ja sie geraten in den Verdacht, Teil einer im Abendland wohlbekannten Erzählung zu sein. Und sie verweisen zurück auf die Geschichte der Bakteriologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Verschwörungstheorien gegen Juden
Seit der Antike wurden immer wieder die Juden beschuldigt, sich gegen Andersgläubige zu verschwören und Gift zu streuen. Am massivsten traten solche Verschwörungstheorien im 14. Jahrhundert auf: Die Juden, so hiess es, hätten die Brunnen mit allerlei Substanzen vergiftet, um die Christen auszurotten. Als die eigentlichen Hintermänner dieser angeblich von langer Hand vorbereiteten Aktion "vermutete" man die Araber. Da sich Araber in Europa jedoch nicht unbemerkt bewegen könnten, würden sie Juden gegen grosse Bestechungssummen dafür gewinnen, als Mittelsmänner die Aktion durchzuführen.
Dieses Erzählmuster einer Verschwörung zur Tötung der Christen, bei der immer die Juden eine zentrale Rolle spielen, findet sich später in diversen Varianten: Im 18. und 19. Jahrhundert glaubten viele Leute felsenfest an die Verschwörung der von Juden "unterwanderten" Freimaurer als Anstifter der Französischen Revolution, und im 19. Jahrhundert tauchte immer wieder die Vorstellung auf, dass die Juden für die grossen Choleraepidemien verantwortlich seien.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich allerdings die Vorstellung von "Gift" grundlegend: Als giftig und für die Bevölkerung gefährlich galten nun zunehmend Mikroben. Die Bakteriologen Robert Koch, Louis Pasteur und andere konnten Mikroben nachweisen und teilweise auch schon durch neue Impfverfahren bekämpfen. Im Zentrum dieser modernen Geschichte der Infektionskrankheiten steht der Milzbrand: 1876 publizierte der damals noch unbekannte Preusse Robert Koch seine Arbeit über den Lebenszyklus des Anthrax-Bazillus und wies dabei die Sporenbildung nach, und 1881 zeigte Louis Pasteur in einem von den Medien gefeierten Feldversuch, dass sich Milzbrandbakterien so weit abschwächen liessen, dass Tiere geimpft und so die französischen Herden vor dieser endemischen Viehseuche geschützt werden konnten.

Der metaphorische Überschuss
Besonders aufschlussreich ist die Sprache, mit der die Bakteriologen das, was sie unter dem Mikroskop sahen, zu verstehen versuchten. Was genau wird sichtbar, wenn man weisse Blutkörperchen aus den Blutgefässen austreten sieht, um sich um einen "Fremdkörper" im Gewebe herum anzulagern? Der grosse Mediziner Rudolf Virchow und andere vermuteten, die weissen Blutkörperchen funktionierten als eine Art "fünfte Kolonne", eine Verschwörertruppe des Körpers, die die fremden Mikroorganismen im Blut verteilen und so die Krankheit befördern. Andere hingegen wie der russisch-französische Bakteriologe Elie Metchnikoff beschrieben die weissen Blutkörperchen als "Fresszellen", die wie "Soldaten" auf dem "Schlachtfeld" ihre Feinde bekämpfen.
Wie genau der Körper die Abwehr der "fremden Eindringlinge" organisiert, ist ein komplizierter und bis heute noch nicht vollständig begriffener Vorgang. Klar ist, dass kriegerische Metaphern dabei eine die Wahrnehmung organisierende Rolle gespielt haben. Und wohl immer noch spielen. Der zentrale metaphorische Zug ist dabei die Verknüpfung von Unsichtbarkeit, "fremdem Eindringling" und "Feind" in der Beschreibung von nichtkörpereigenen Mikroorganismen: Das sind "unsichtbare Feinde", die mit den "Waffen der Wissenschaft" bekämpft werden müssen. Diese Worte sind nicht einfach "falsch", und sie bedeuten auch nicht, dass die Mikroben durch sie bloss "konstruiert" würden: Es gibt Milzbrand-Bakterien - aber die Wörter, die verwendet werden, um etwas über sie zu sagen beziehungweise um sie zu "begreifen", haben immer auch einen metaphorischen Überschuss. Das heisst, sie bedeuten immer noch etwas anderes, lassen Dinge und Zusammenhänge anklingen, die unsere Wahrnehmung und unser Handeln prägen.
Die Bakteriologie sprach von Anfang an von Eindringlingen und Abwehrschlachten, und die Epidemiologen liessen um die Jahrhundertwende nie einen Zweifel daran, woher die gefährlichen Mikroben nach Deutschland eingeschleppt würden: aus dem Osten. Ins Visier der Sanitätsbehörden von Preussen bis hin zu jenen auf Ellis Island, der Eintritts- und Kontrollstation für europäische Immigranten vor New York, gerieten sehr schnell die osteuropäischen Juden. Die Vorstellung, die Juden Osteuropas seien gefährliche Träger von Mikroben und von krankheitsübertragenden Läusen, hat in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg vielfältige Anstrengungen zur "Desinfektion" dieser Bevölkerungs- bzw. Migrantengruppe ausgelöst. Es war dann nur noch ein kleiner Schritt, die Juden selbst als jene gefährlichen Eindringlinge zu verstehen, die den "Volkskörper" oder gar die "Rasse" "vergiften". Der so aufgeheizte Desinfektionswahn endete mit dem Einsatz von Zyklon B in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern des Zweiten Weltkriegs. In Auschwitz starben die Juden unter einer "Desinfektionsdusche".
Ähnliches lässt sich für die vom Chemiker Fritz Haber entwickelten Giftkampfgase feststellen, die im Ersten Weltkrieg ab 1915 an der Westfront zum Einsatz gebracht wurden. Sie sollten dazu dienen, die "unsichtbaren Feinde" - die Soldaten in den Schützengräben - auf eine völlig neue, von der Bakteriologie inspirierte Weise zu bekämpfen. Nicht zufällig hiessen die Kompanien, die mit der "Gaswaffe" ausgerüstet wurden, in der Sprache des deutschen Generalstabs "Desinfektionskompanien".

Das Eigene und das Fremde
Was kann die Funktion einer Vergegenwärtigung von solchen historischen Beispielen für aktuelle Vergiftungsängste sein? Es ist klar, dass die Vorstellung eines "Volkskörpers" oder gar einer "Rasse", die von fremden Eindringlingen "vergiftet" werden könnte, heute weitgehend delegitimiert ist und zumindest offiziell die Politik nicht mehr anleitet. Aber ob das auch bedeutet, dass sie nicht doch aus dem Hintergrund heraus unsere Vorstellungen von "fremd" und "eigen", von "good and evil" lenken, ist angesichts der gegenwärtigen Ereignisse zumindest eine offene Frage. Es ist eine interessante sprachliche Konvergenz, dass Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Terroristen ebenso als "unsichtbare Feinde" bezeichnet und behandelt, wie dies schon Robert Koch vom Milzbranderreger gesagt hat. Und auch wenn die Beweise fehlen, so scheinen doch in der öffentlichen Wahrnehmung die vergifteten Briefe und die terroristischen Akte vom 11. September unter dem gemeinsamen Zeichen der Unsichtbarkeit zusammenzugehören.
Es geht nicht darum, die Gefährlichkeit von Milzbranderregern zu unterschätzen oder die Gefahr solcher Angriffe für unsere Gesellschaften zu negieren. Aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass die medial verstärkten Ängste einen imaginären Raum schaffen, in dem das Fremde immer schon der Feind ist. Das aber droht nun zu verschärften Ausgrenzungskampagnen zu führen. Das neue polizeiliche Konzept der "Schläfer" etwa ist verheerend gefährlich, weil dadurch eine bestimmte Gruppe von Menschen, die Teil unserer Gesellschaft ist, unter Generalverdacht gerät. Die Konsequenz ist, dass in den neuen Personalausweisen unter anderem die Abmessungen des Schädelknochens zur Identifizierung der Person verwendet werden soll, wie das ein Entwurf des deutschen Innenministers Otto Schily vorsieht. Hat man in Deutschland nicht schon genug leidvolle Erfahrungen mit der Vermessung von Schädelknochen gemacht, um auf diese biologistische Weise "fremd" und "eigen" scheiden zu wollen?
Es ist leicht vorstellbar, dass "arabische" Schädelknochenindices bei Rasterfahndungen mit dazu benutzt werden können, potenzielle "Schläfer" auszusortieren und Täterprofile zu erstellen. Dazu passt, dass in den USA die Polizei ermächtigt werden soll, Ausländer ohne richterliche Verfügung in Gewahrsam zu nehmen, oder dass die chinesische Regierung "ihre" Fluggesellschaften angewiesen hat, keine Tickets mehr an Muslime zu verkaufen. Aber auch im Westen scheint nun klar zu sein: Der Feind ist nicht nur fremd und unsichtbar, sondern trotz allen Beteuerungen ein Araber.
 

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Philipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich. Er leitet ein Nationalfondsprojekt zum Thema "Politische Metaphern der Bakteriologie 1880–1930" und publizierte kürzlich "Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914", Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001.
 
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