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Pneumokokken-Impfung von Säuglingen - nachhaltig?
die Frage nach der Problemverschiebung bzw. dem Gesamtnutzen
.
Seit 30 Jahren werden die Säuglinge routinemässig gegen das Bakterium Hämophilus-influenzae-B (HiB) und seit 15 Jahren gegen Pneumokokken geimpft. Vor 30 Jahren waren bei den invasiven bakteriellen Infektionen von Säuglingen und Kleinkindern HiB dominant, seit 20 Jahren sind es die Pneumokokken und seit 10 Jahren Pneumokokkentypen, welche von der Impfung nicht betroffen sind (Serotypenshift) (1) und andere Bakterienarten. Metaanalysen der letzten 5 Jahre kommen zum Schluss, dass die Pneumokokken-impfung auf die Sterblichkeit der invasiven bakteriellen Infektionen keinen und auf die Inzidenz von eitrigen Menningitiden (weltweit 13/100'000 Kindern) nur einen kleinen Einfluss haben. (2), (3), (4)
Die gesamte Krankheitslast bei Kindern weltweit infolge schwerster (und auch leichterer) bakterieller Infekte hat sich weder durch die HiB- noch durch die Pneumokokken-Impfung im Säuglingsalter wesentlich verringert.(1)/(2)

aktualisiert 1. November 2021
Übersicht über die Pneumokokken-Erkrankung und -Impfung hier

  Pneumokokken
Die Geschichte der HiB- und der Pneumokokken-Impfung in der Schweiz.
Die Inzidenz der invasiven Infektionen im Kindesalter durch Hämophilus-influenzae-B (die jährliche Anzahl neuer Fälle pro 100'000 Kinder) ist nach Einführung der HiB-Säuglingsimpfung 1991 innert 5 Jahren drastisch von 14/100'000 auf 1-2/100'000 abgesunken. Demgegenüber stiegen die Inzidenzen der invasiven Pneumokokken-Infektionen bei Kindern seit den 90'er Jahren bis zu einem Maximum 2004 deutlich an (geschätzt auf das 3-fache). Seither sinken sie unter dem Einfluss der zunehmend verbreiteten Säuglingsimpfung - stagnieren aber seit 2008 bei einer Inzidenz um gut 5 pro 100'000 Kinder. Das BAG muss einen deutlichen Serotypenschift feststellen: von 2/3tel Abdeckung durch die 7-valente Impfung auf 1/6tel innert 5 Jahren. (BAG-Bulletin 51/2010)

(2002) 2003 bis 2006 wurden je 1000 - 1500 Hochrisiko-Säuglinge (Risiko Grössenordnung 1-6/100 Kinderjahre) mit dem 7-valenten Konjugatimpgstoff gegen Pneumokokken geimpft (Prevenar®, Schätzung BAG), mit der Erwartung, dass ab 2003 die entsprechende Inzidenz bei den Kleinkindern merklich verringert würde - was aber nicht eintraf.
Seit November 2005 (BAG-Bulletin 45/05)wird zudem Prevenar® zu den sogenannten "ergänzenden Impfungen" gezählt, d.h. vom BAG im Prinzip für alle Säuglinge und Kleinkinder als empfehlenswert deklariert. Seit August 2006 wird für diese Kinder die Impfung auch von den Krankenkassen bezahlt. Die Durchimpfung der Säuglinge ist ab Jahrgang 2015 auf über 80% angelangt (BAG-Bulletin 16/21). Anfang 2011 wurde der 7-valente Impfstoff durch einen 13-valenten ersetzt, in der Hoffnung, damit den unerfreulichen Serotypenshift zu bremsen: der neue Impfstoff deckte bei Zulassung 4/5tel der Serotypen, welche 2009 bei Kleinkindern mit invasiver Erkrankung gefunden worden sind. Seit 2019 gilt die Pneumokokkenimpfung als "empfohlene Basisimpfung". In den 18 Jahren seit Einführung der Impfung ist zwar die Durchimpfung auf annähernd 90% gestiegen. Die Impfstoffwirksamkeit hat aber gleichzeitig stark abgenommen: der 7-valente wurde innert 5 Jahren breiter Anwendung unbrauchbar und der 13-valente scheint seinen Wirkungszenit vor etwa 5 Jahren überschritten zu haben (3).
Im Ergebnis stagniert zur Zeit die Gesamtinzidenz der invasiven Pneumokokken-Erkrakungen des Kindesalters (0-15 jährig) in der Schweiz und zB. auch in Deutschland auf zu hohem Niveau (speziell in den ersten 2 Lebensjahren), wärend dem die Impfung gegen HiB auch nach 30 Jahren breiter Anwendung noch keine Schwächezeichen zeigt.

(1) https://www.gov.uk/government/publications/pneumococcal-disease-caused-by-strains-not-covered-by-prevenar-13-vaccine/
     pneumococcal-disease-infections-caused-by-serotypes-not-in-prevenar-13-vaccine
(2) Reshmi Mukerji, David E. Briles: New Strategy Is Needed to Prevent Pneumococcal Meningitis
     The Pediatric Infectious Disease Journal, Volume 39, Number 4, April 2020
(3) Hannah Ewald et al: Klinische Wirksamkeit von Pneumokokken-Konjugatimpfstoffen - Systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse
     randomisierter kontrollierter Studien. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 113, Heft 9, 4. März 2016
(4) Winberger Raphael: Invasive Pneumokokken-Erkrankung im Kindesalter: Herausforderungen in der Ära des 13-valenten Konjugatimpfstoffs
     2019 Dissertation Medizinische Fakultät Ludwig-Maximilians-Universität München

 
Bildlich stellen sich die Verhältnisse in der Schweiz folgendermassen dar:
HiB/Pneumok-invasiv: Inzidenz CH

Invasive Pneumokokkenerkrankungen bei Kindern 0-15 Jahren in der Schweiz:
aktuell (2020) ca 1.3 Mio. Kinder

1985-94: 2,7/100'000 (ca 35 Fälle/Jahr) retrospektive Studie
- Schäzung: (Venetz I, Schopfer K, Mühlemann K.;
     Pediatric invasive pneumococcal disease in Switzerland,
     1985-94. Int J Epidemiology 1998, 27:1101-04)
- systematische Überwachung
     Labors: ab März 1999 / Ärzte: ab März 2001
1998/99: 7.5/100'000 (99/Jahr, BB 15.3.00)
2000: 5.7/100'000 (76/Jahr, BB 11.6.01)
2001: 8.4/100'000 (110/Jahr, BB 29.7.02 )
- Zulassung 7-valenter Impfstoff zur Impfung von
      Risikosäuglingen (BB 16.7.01, 1000-1500/Jahr)
2002: 7.6/100'000 (85/Jahr)   2003: 9.2/100'000 (104/Jahr)
2004: 10.4/100'000 (117/Jahr)   2005: 8.6/100'000 (97/Jahr)
- Empfehlung ergänzende Impfung für alle Kleinkinder
2006: 9.1/100'000 (102/Jahr)   2007: 10.5/100'000 (118/Jahr
2008: 7.6/100'000 (86/Jahr)   2009: 7.6/100'000 (85/Jahr)
2010: 6.8/100'000 (77/Jahr)   2011: 7.3/100'000 (82/Jahr)
- Ersatz des 7-valenten durch 13-valenten Impfstoff
2012: 4.8/100'000 (54/Jahr)   2013: 5.1/100'000 (66/Jahr)
2014: 3.6/100'000 (47/Jahr)   2015: 4.0/100'000 (51/Jahr)
2016: 3.4/100'000 (44/Jahr)   2017: 3.0/100'000 (39/Jahr)
2018: 6.0/100'000 (76/Jahr/   2019: 3.6/100'000 (45/Jahr)
2020: 2.6/100'000 (33/Jahr)   Quelle: BAG Infektionskrankheiten

Bis jetzt zeigt sich für die Schweiz im Vergleich zum Weltmassstab noch ein relativ günstiges Bild: die Inzidenz verharrt auf etwa der Hälfte im Vergleich zur Situation 2003-07, als man begann, die Pneumokokken-Impfung in die Breite anzuwenden.

à propos:   im Verkehr getötete oder schwerverletzte Kinder (0-14J) in der Schweiz 2019: 170
(davon 47 auf dem Fussgängerstreifen!) ; Inzidenz 2019  14 pro 100'000 Kinder www.bfu.ch)
Anmerkung:
Im Falle der Pneumokokken wurde in der Schweiz 2001 Prevenar® nur für Risikokinder zugelassen, denn unter den 0-2-jährigen invasiv Erkrankten weisen bis zu 50% ein erhebliches, begleitendes chronisches Leiden auf (wie Immunstörung, Lungenkrankheit, Diabetes etc.). Diese Risikokinder durch frühzeitige Impfung individuell zu schützen, ist einleuchtend - pro Jahr werden damit vermutlich 10 bis 15 invasive Erkrankungen vermieden, welche bei diesen Kindern ja besonders häufig bleibende Spuren hinterlassen würden.
Inzwischen (2021) sind aber bereits 15 Geburtsjahrgänge zu über 80% durchgeimpft worden. Bei den ansonsten gesunden Kindern wird der Nutzen der Immunisierung wesentlich geringer ausfallen - es ist aber gerade ihre grosse Zahl, welche den epidemiologischen Druck zum Serotypenshift erzeugt, diesen beschleunigt - und damit die Qualität des Impfschutzes bei den Hochrisikokindern beeinträchtigt!
Es sind etwa 90 Serotypen der Pneumokokken bekannt und die verfügbaren Impfstoffe sind für europäische Verhältnisse nicht optimiert. Bisher unbedeutende Varianten werden zunehmend ihre Chance bekommen. Die skeptische Beurteilung des Arzneitelegramms in Berlin über das deutsche Pneumokokken-Impfprogramm aus dem Jahr 2006 dürfte auch für die Schweiz (immer noch) anwendbar sein.
Der Übergang von der gezielten, risikogerechten Impfung zur generellen Durchimpfung ganzer Geburtsjahrgänge ist unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ein Schritt ins Ungewisse..
 

Peter Klein, 2.10.2003, aktualisiert 01.11.2021     www.impfo.ch  

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